Die Birken sind schon weg
Warten
Um drei Uhr hätte Maria da sein sollen. Sie hat es versprochen. Sie hat wenig Zeit für mich, ich bin nur ihre Mutter. Die Haare wollte sie mir waschen und eindrehen. Wenn wir zu spät anfangen mit dem Haare Waschen und Eindrehen, versäume ich meine Lieblingssendung. Sie machen sich darüber lustig. Maria kann auf meinen Tagesplan keine Rücksicht nehmen, sagt sie. Sie hat es nicht leicht, der Beruf, ihr Mann. Jetzt ist es schon Viertel nach zwei. Wahrscheinlich hat sie mich vergessen, so wie letzte Woche. Ich hatte sie um Schweinsnieren gebeten. Bald höre ich sowieso auf zu kochen.
Ich sitze auf meinem Sofa im Wohnzimmer, meine Katze liegt neben mir und schaut mich an. Meine Katze liebt mich. Alle haben sie ihr Leben, meine Geschichten von früher will niemand hören. Das Sofa ist jetzt mein Mittelpunkt der Welt, acht Schritte bis zum Kühlschrank, zwanzig bis zum Badezimmer. Mein Fuß schmerzt, mein Knie schmerzt. Maria sagt, ich soll mehr trinken. Acht Schritte bis zum Apfelsaft im Kühlschrank und acht Schritte zurück sind sechzehn Schritte. Zu viel für Trinken, wenn man keinen Durst hat.
Wo sie nur bleibt? Wie gerne hätte ich ein Stück Apfelstrudel, aber den aus der Konditorei in Nonntal, der ist schön saftig und nicht so süß. Soll ich Maria anrufen, ob sie noch schnell den Umweg machen könnte? Sie ist jetzt schon spät dran, sie hat genau zwei Stunden Zeit für Haare Waschen und Eindrehen. Also kein Apfelstrudel, das nächste Mal. Ich denke an mein Haus am Berg, so wie ich immer an mein Haus am Berg denke. Ich erzähle ihnen nichts mehr darüber. Ich habe die Erinnerungen eingeschlossen an meine Blumen und an den Geruch von Heu und an Leopold. Mit der Sense hat er das Gras gemäht, vorsichtig, sodass er keine Margeriten erwischte. Marias Mann mäht sie um, mit dem Motorrasenmäher.
Jetzt mache ich mir Sorgen, wo Maria so lange bleibt. Das Sorgenmachen kann ich nicht lassen, es war immer da. Darüber, ob Leopold vom Krieg heimkehrt, ob die Lebensmittelmarken reichen, ob wir den Betrieb aufbauen können, ob wir ein Wochenende ohne meine Mutter verbringen werden, ob ich Maria als Nachzüglerin auf die Welt bringen kann, ob genug Holz in der Holzhütte gelagert ist, ob die Mäuse nicht die Tulpenzwiebeln fressen.
Freuen
Ich höre den Schlüssel im Schloss. Ich höre zwar kaum mehr, was sie sprechen neben mir, aber das Knacken des Schlüssels, wenn Maria aufsperrt, höre ich gut. Zuerst das Aufsperren und dann das Pfeifen, das Zeichen dafür, dass sie da ist. Sie pfeift, damit ich nicht erschrecke, wenn sie plötzlich in der Tür steht. Ich freue mich jedes Mal, wenn sie da ist. Ich beschwere mich über ihre Unpünktlichkeit, wieder hat sie die falsche Joghurtsorte mitgebracht. Ich sehne mich nach ihrer Aufmerksamkeit.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich hinter meiner rauen Schale versteckt. Das war notwendig, sonst hätten sie mich verschlungen im Betrieb. Nur am Berg war der Ort, um zarte Leberblümchen zwischen Büchern zu pressen und sie in meinem Tagebuch aufzubewahren. Jetzt kann ich den Panzer nicht mehr ablegen. Maria will ihn erst gar nicht knacken, sie ist es gewöhnt, daran abzuprallen. Sie ist die Tochter, nach der ich mich immer gesehnt und die ich immer von mir ferngehalten habe. Maria hat mir nie verziehen, dass mich ein Kindermädchen und eine Haushälterin ersetzten. Alle haben von mir erwartet, dass wir den Betrieb aufbauen. Ich war einmal die Chefin.
Maria steht vor der Tür und bläst fast unmerklich die Backen auf. Das Zeichen ist mir vertraut, Maria packt mich dazwischen, das Haare Waschen und Eindrehen, mit meiner Mutter habe ich es genauso gemacht. Meine Katze schnurrt, sie genießt meine Wärme.
Das Ritual des Haare Waschens verbindet uns. Affen lausen sich gegenseitig. Menschen waschen sich die Haare. Affen fühlen sich genauso sicher wie Menschen, wenn sie sich um einander kümmern. Das Aufstehen, auf meinen Stock gestützt, ist beschwerlich. „Warum kommst du so spät?“, frage ich. Wir entkommen unseren Mauern nicht. Langsam wanke ich zum Badezimmer, zwanzig Schritte. Es dauert. Endlich angekommen, setze ich mich auf den kleinen Schemel vor dem Waschbecken, Maria stützt mich am Ellbogen und achtet darauf, dass ich mich nicht daneben setze. Sie ist mit den Gedanken nicht im Badezimmer und nicht bei mir. Ihren eigenen Kopf hatte sie immer schon, ihre Hausaufgaben erledigte sie als Kind alleine. Ich war zu sehr mit dem Betrieb beschäftigt. Ich habe ihre Leseschwäche übersehen und dass sie eine Brille braucht. Wir haben unseren Betrieb aufgebaut. Leopold fehlt mir. Sie haben alle ihr Leben.
Erinnern
Das Haus am Berg war immer meine Insel. Leopold und ich haben uns eine Burg gebaut, ohne Mauern, ohne Zinnen, ein Schloss mit Luft, kein Luftschloss. Ziegel für Ziegel, Zementsack für Zementsack haben wir getragen, die vielen Stufen hinunter durch den Wald, mit den Händen die Grube für das Fundament gegraben. Der Wunsch nach Rückzug war so stark, dass wir dieses Haus bauen konnten, am Berg, einige Kilometer außerhalb der Stadt. Meine Blumen gediehen, die Rosen und der Rittersporn, der Efeu und das duftende Mädesüß, die Hortensien im Sommer und die Tulpen im Frühling. Es war hell um uns herum, wenn wir am Wochenende unsere Körbe packten, mit Proviant und Jungpflanzen vom Gärtner, und uns für zwei Tage im Schloss verschanzten, das unser Schloss war, weil wir es gebaut hatten, mit unserer gemeinsamen Kraft. Wenn ich hinuntersah auf die gleißende Stadt, auf die Schlangenform der Salzach, auf die Festung und die winzigen Häuser, die wie Würfel verstreut da lagen, war es friedlich. Auch wenn Leopold und ich viel gestritten haben. Und jedes Mal am Sonntagabend der schmerzliche Abschied von oben, um nach unten zurückzukehren und wieder in die Mühle einzusteigen, die genauso mein Leben war. Natürlich wollte ich entfliehen aus dem dunklen Keller, mit den Zwängen und Pflichten und Vorschriften. Hinauf flüchten auf den Berg, wo es nach Heu roch im Sommer und nach feuchtem Laub im Herbst. Das Rascheln der Birkenblätter und das weiche Licht am Abend und der Duft nach Geißblatt und Ruhe hielten mich Wochenende für Wochenende am Leben, genug für die restlichen fünf Tage der Woche.
Das Auto bog bei der Ankunft am Berg immer scharf um die Ecke, langsam und behutsam nahm Leopold die Kurve, noch ein paar Meter und wir parkten den Wagen für zwei Tage, in denen wir atmen konnten. In vielen Säcken und Körben hatten wir unsere Sachen verstaut, die wir brauchten. Beschwerlich war der Weg, hinunter zum Haus, über die Stiegen, die wir selbst gefestigt hatten mit Holzpflöcken und Schotter. Stufe für Stufe gingen wir, immer schwer beladen, hinunter zum Haus, das auf uns wartete und uns empfing wie ein guter Freund. Die Gartentür des Holzzauns knarrte beim Öffnen und die Kuhglocke bimmelte, die Leopold befestigt hatte. Dieser Ton beim Eintreten war das Geräusch zum Glück. Noch ein paar letzte Stufen, und wir waren angekommen. Leopold sperrte die Haustüre auf, ein schneller erster Blick um unser Haus herum. Es war immer alles in Ordnung, all die Jahre, bis auf ein paar abgebissene Rosenknospen da und dort und neue Maulwurfshügel. Oder manchmal hatte der Wind einige Äste auf die Blumenbeete geweht. Das Einatmen war der erste Höhepunkt beim Ankommen, würzig und klar und rein, so wie ich es nirgendwo anders auf der Welt gerochen habe. Ich bin auch nicht weit gekommen, die Konditorei Zauner in Bad Ischl war eines meiner wenigen Ziele. Und einmal sogar die Amalfiküste, wo wir Maria zeugten.
Sehnen
Früher bin ich immer auf meiner Bank vor dem Haus am Berg gesessen, wenn ich auf Maria gewartet habe. Das ist mein letzter Sommer, seit Jahren dachte ich diesen Gedanken. Maria war gekommen, sie hatte für mich eingekauft. Und sie hat mir die Haare gewaschen und eingedreht. Ich roch den scharfen Duft des Haarfestigers und war mir sicher, noch da zu sein. Die violette Flüssigkeit in der kleinen Glasflasche und Haare Waschen und Haare Eindrehen bedeuten, ich bin noch am Leben. Maria machte das schon, seit sie ein junges Mädchen war: Strähne für Strähne frisierte sie mit einem Kamm das frisch gewaschene nasse Haar und rollte es geschickt um die großen Lockenwickler. Ich mochte das immer schon. Dann hat sie Zeit für mich und kann keine anderen Dinge machen, die wichtiger sind. Die nassen Wickler auf meinem Kopf müssen dann schnell unter die Trockenhaube. Danach kommt das Ausfrisieren, dann fühle ich mich gut.
Ich habe mir immer schon mehr Zeit von Maria gewünscht. Meine Mutter hat die Zeit, die sie wollte, eingefordert. Eine gute Tochter hat sich um ihre Mutter zu kümmern. Sie hat sich in mein Leben gedrängt, hat sich hinter ihrer Schwerhörigkeit verschanzt und mich ihr Leben lang überhört.
Von meiner Bank aus sah ich die schräg liegende Wiese, die Leopold immer gemäht hat. Die Birken sind schon weg. Marias Mann sagte, sie würden die Aussicht verstellen und so viel Mist machen. Deshalb wurden sie vor einigen Jahren umgehackt. Ich hatte das Rascheln der Birkenblätter gern. Bis die Stiegen zu meinem Schlafzimmer im ersten Stock unüberwindbar wurden, solange konnte ich in meinem Haus am Berg sein.
Lieben
Maria fuhr früher regelmäßig mit mir zum Friedhof. Sie durfte ausnahmsweise hineinfahren, die Straßen sind breit genug für ein Auto. Ich habe ihr gesagt, sie soll die violetten Stiefmütterchen kaufen, nicht die weißen. Langsam im Schritttempo fuhr sie bis zum Grab, in dem Leopold liegt. Und unser Urenkel, das war nicht geplant. Ich sollte nach Leopold kommen, nicht ein Kind. Von dem Grab aus sieht man zum Haus am Berg, deshalb haben wir diesen Friedhof ausgesucht und uns vor vielen Jahren ein Grab gekauft. Maria hielt den Wagen an, stieg aus und kam auf meine Seite, um mir die Türe zu öffnen. Vorher trug sie immer die Plastikbank vor das Grab, die irgendwo herumstand. Sie hielt mir meine Krücken hin, damit ich mich gleich drauf stützen konnte beim Aufstehen. Ich setzte mich auf die Bank, wenn es nicht zu kalt war, so konnte ich ein wenig länger bleiben. Maria schaute immer wieder auf die Uhr. „Frage nicht, was dir zusteht, frage, was du entbehren kannst“, war der Lieblingssatz meiner Mutter, 2 Weltkriege. Maria holte die Blumen aus dem Kofferraum, zog die mitgebrachten Gartenhandschuhe an, kniete sich nieder und drückte jedes einzelne Pflänzchen in die Vertiefung, die sie mit dem Finger im Handschuh bohrt. Ich habe nie Handschuhe getragen bei der Gartenarbeit. Die Blütenköpfe waren manchmal klein und mager, ich hätte kräftigere ausgesucht. Ich saß da und dachte an Leopold. Nachdem Maria fertig war, holte sie eine grüne Gießkanne vom Brunnen und goss mit dickem Strahl die Blumen. Gerne hätte ich gehabt, dass sie sich einen Augenblick neben mich setzte.
Leben
Nach dem Haare Waschen liege ich wieder in meinem Bett, das heißt, es ist nicht mein Bett, Maria hat es vom Bandagisten ausgeborgt, man kann Pflegebetten für zuhause ausleihen. Es ist nicht für immer, nur solange, bis der Pflegefall darin gestorben ist. Jetzt bin ich dran. Ich habe keine Schmerzen, sie geben mir Morphium. Maria erklärt mir den Vorgang ganz genau. Sie ist eine gute Tochter. Savanka hat sie mir erst organisiert, als ich einsehen musste, dass mich ein Sturz allein am Abend stundenlanges unwürdiges Liegen am Boden kosten kann. Jetzt lebt Savanka seit drei Wochen in meinem Schlafzimmer. Mich haben sie ins Wohnzimmer in mein Pflegebett verlegt, Pflegefall. Die Chefin liegt jetzt im Pflegebett mit seitlichen Gitterstäben. Es ist heiß im Zimmer, ich kann keine Bäume sehen und keine Blumen, die wachsen. Maria stellt mir immer Schnittblumen in die Vasen. Heute wird noch meine Enkeltochter kommen. Maria sagt, ich soll ihr einen meiner Ringe schenken. Maria sagt, wann ich trinken soll und wann es Zeit ist für Medikamente. Sie kommen alle ein letztes Mal, um sich zu verabschieden. Aber niemand spricht es aus. Ich denke jeden Tag an mein Haus am Berg, aber ich erzähle es ihnen nicht mehr. Niemand will in Erinnerungen wühlen. Niemand will meine Traurigkeit. Dabei haben sie mich bis heute am Leben gehalten, meine Traurigkeit und meine Erinnerungen an die guten Zeiten. Warum habe ich nur nie gespürt, wann sie gut waren? Ich habe Angst vor dem Tod, ich erzähle das niemanden. Ich schenke ihnen meine Ringe und würde ihnen viel lieber meine Erinnerungen dalassen.
Gehen
Mein Körper verweigert seinen Dienst, zuerst haben die Knie versagt, dann die Füße, oder war es umgekehrt? Im Kopf klar und in einem kaputten Körper gefangen sein, oder ist es umgekehrt schlimmer? Nie mehr den Duft von Heu riechen. Ich habe es freiwillig aufgegeben. Ich hätte mich genauso gut dort oben am Berg einsperren lassen können, beaufsichtigt von einer Pflegerin. Aber sie wäre ein Eindringling gewesen. Und Maria hätte die Knollen der Dahlien nicht in die richtige Tiefe gesetzt und den Rittersporn viel zu früh geschnitten. Es wäre eng geworden für meine Wünsche und Marias Kraft. Ich musste das Feld räumen in meinem Haus am Berg. Und so bin ich in meinem geliehenen Pflegebett gelandet. Nur in meinem Kopf gibt es sie noch, die Siebenschläferfamilie im Holzhaus. Einfach loslassen geht noch nicht. Wann wird meine letzte Nacht sein? Wann werde ich meine letzte Rindsuppe essen? Kann man einfach gehen? Warum liegt die Katze heute nicht bei mir im Bett?
eine schöne, berührende,traurige geschichte !
warten wir, die wir schon älter sind, nicht auch immer auf einen lieben menschen, der einem das gute gefühl des nicht – allein- seins gibt ?
und freuen uns, und erinnern uns über so viel erlebtes, das man doch erzählen sollte, so es einen zuhörer gibt !
ich glaube, man sehnt sich bis zu seinem letzten atemzug nach liebe, freilich anders als früher ! die uns wärmt und das gefühl von einsamkeit nicht aufkommen läßt !
und es wünscht sich bestimmt jeder, daß er auf ein erfülltes, glückliches leben zurückblicken kann.
Liebe Ulli, das ist genau die berührende Geschichte, wie Du sie kurz geschildert hast. Und dennoch habe ich als Glückssucher nach dem allerletzten Fragezeichen „gehofft“, dass irgendwer die Terrassentür aufstößt, eine sanft-frische Strömung in den Raum dringt und den Duft des Gartens hereinträgt, dabei die Traurigkeit bestäubt und ihr den Schrecken nimmt. Und während ich tippe, öffnet sich eine Blüte …
Lieber Kurt,
du hast recht – genau so einen Schluss hätte ich mir auch gewünscht.
Vergeblich.