Siedlungskindheit. Meine Erinnerungen an früher / Teil 1
1.
Ich war ein ländliches Siedlungshochhauskind in der Nähe der Stadt Salzburg. Das Haus war nicht sehr hoch. Im Vergleich zu den kleinen Einfamilienhäusern rundherum, erschien es mir aber wie ein Wolkenkratzer. Ich wohnte in diesem einzigen Siedlungshochhaus der Ortschaft, die meisten anderen Familien der Ortschaft hatten ihre eigenen Familienhäuser. Mein Zuhause war dieser große Block, der von der Gemeinde in den 60er-Jahren für junge Familien gebaut worden war. In meiner Erinnerung gab es überhaupt nur Mutter-Vater-Kind-Familien. Keine Singles, wenige Alleinerziehende. Nur in einem Haus wohnte eine Gruppe von Jugoslawen. Wir Kinder hielten immer Abstand, denn wir hielten Jugoslawen für gefährlich. Das wurde nicht weiter besprochen oder argumentiert, und niemand fand es für notwendig, die Gerüchte aufzuklären. Auch fragte ich nicht nach bei meinen Eltern. Oft in Angst oder zumindest immer wieder in Ungewissheit zu leben, die durch eine einfache Erklärung hätte aufgeklärt werden können, gehörte zu meinem Kindsein.
Wir waren die Sorte junge Familie, die sich kein Familienhaus leisten konnte. Uns Kindern war das egal. Einmal brannte ein Wohnzimmer im Block. Die Flammen loderten heftig aus den Fenstern, die Wohnungsbesitzer waren nicht zuhause. Die Feuerwehr löschte den Brand, und die halbe Siedlungsgemeinschaft hatte sich versammelt, um die Aufregung nicht zu verpassen. Die benachbarte Einfamilienhausbesitzerin zischte in ihrem unerfreulichsten Salzburger Mittelstandsalzburgerisch: „Obrenna soi’s, die Bude!“ Der Block war für die Einfamilienhausbesitzer die untere Sprosse der Sozialleiter.
Dabei war der Code für Wohlstand korrekt einzuhalten: Die Einfamilienhäuser waren alle gleich in der Bauart. Immer gab es ein Blumenfenster, das umrahmt sein musste von einer symmetrischen weißen Gardine, es gab die Terrasse, den Balkon, die Fensterläden, das Walmdach, den Gartenzaun, meistens die rundum schützende Thujenhecke. Unterschieden haben sich die Häuser höchstens im Blumenschmuck und in der Garagenvariante und in der Farbe. Garagen waren aber selten und natürlich nur dann Teil des Hauses, wenn der Familienvater ein Auto besaß. Siedlungsmütter mit Auto gab es so gut wie keine. Die meisten Siedlungsmütter waren zuhause und fuhren einmal in der Woche mit dem dazugehörigen Familienvater zum Großeinkauf in den Maximarkt, sofern der Vater Autobesitzer war. Ich erinnere mich an einen Vater ohne Auto. Die Familie sprach untereinander in einer fremden Sprache, sodass wir sie nicht verstehen konnten. Der jüngste Sohn hielt seine volle Haarlocke mit einem Schiebespangerl zurück, damit ihm das Haar nicht ins Gesicht fiel. Für sein Schiebespangerl, für die Kleidung seiner älteren Schwester (die wir Kinder für altmodisch hielten), für ihre fremde Sprache und vielleicht auch für das fehlende Auto wurden die Kinder in unserer Kindergemeinschaft ausgegrenzt, in der Schule und in der Siedlung.
2.
Für den Kleineinkauf gab es den Siedlungsgreißler, Herr Schwabauer. Er war für alle Bewohner der Siedlung zu Fuß zu erreichen. Herr Schwabauer war immer in Eile und hatte abgebissene Fingernägel, die ich immer wie gebannt betrachtete, wenn er mit der linken Hand den Schwarzbrotwecken und die Milchpackung und die Butter und die Kartoffeln im braunen Papierstanitzel und das Frufru über den Kassatisch zog und mit der rechten Hand, beinah ohne hinzuschauen, die Zahlen in die Kassatastatur eintippte. Nichts wünschte ich mir so sehr, als auch in diese Kassa Zahlen einzutippen. Ich achtete darauf, nicht seine Finger zu berühren, wenn er mir das Wechselgeld in die Hand drückte. Oft war der Einkaufskorb sehr schwer, aber ich war stolz, von meiner Mutter zum Einkaufen geschickt zu werden. Süßigkeiten oder Eis ohne Erlaubnis zu kaufen, war streng verboten. Mein Bruder und ich hielten uns an dieses Verbot. Ob der Schillingbetrag von meiner Mutter jemals kontrolliert wurde, weiß ich nicht. Sie bekam von meinem Vater jeden Monat Haushaltsgeld. Wenn das Geld Ende des Monats verbraucht war, ging sie mit uns zur Autobushaltestelle und wir fuhren zu meiner Großmutter in die Stadt zum Mittagessen. Meine Mutter war zuerst Vollzeitsiedlungshochhaushausfrau. Als ich 8 Jahre alt war, begann sie aber zu arbeiten und kaufte sich ein gebrauchtes Auto. Ab da fuhren wir nicht mehr so oft zu meiner Großmutter und ich brauchte nur mehr selten einkaufen zu gehen. Denn wir fuhren jetzt auch zum Maximarkt oder zum Hofer für den Großeinkauf wie einige andere Siedlungsfamilien. An meinen Vater als Einkaufsbegleitung kann ich mich kein einziges Mal erinnern. Meine Eltern belegten jetzt 2 Parkplätze vor dem Siedlungshochhaus, mein Vater mit einem türkisfarbenen Toyota und meine Mutter mit einem roten Renault 4, ein Auto, das mir peinlich war, wenn mich meine Mutter wo abholte. Ich sagte ihr das aber nie, weil ich sie nicht kränken wollte.
3.
Insgesamt hatte der Salzburger Vorstadtblock vier Stockwerke, wir wohnten im Parterre. Im Sommer stellte meine Mutter ein Plastikschaffel unter unser Küchenfenster und kippte warmes Wasser vom Fenster aus hinein. Dort badeten wir, mein Bruder und ich. Die anderen Mütter hatten nicht solche Ideen – und auch kein eigenes Auto. Frau Huber war die Hausmeisterin in unserem Haus. Eine Frau mit kohlrabenschwarz gefärbten Haaren und vier Kindern. Nachdem ihr Jüngstes zur Welt gekommen war, läutete ich jeden Tag an der Tür und drängte meinen Besuch als Babysitter auf. Der kleine Andi bekam regelmäßig einen in Zucker getunkten Schnuller, damit er schnell einschlief. Mir erschien diese Methode sehr vernünftig. Als er 5 Jahre alt war, hatte er schwarze Stummel statt seiner Milchzähne im Mund. Frau Huber kochte zu besonderen Wochentagen Grumbeeranudeln, das Leibgericht aller vier Kinder, von dem besonders der eine Sohn schwärmte, der in meinem Alter war. Bald war für mich nichts so begehrenswert, als einmal Grumbeeranudeln zu essen. Ich war regelrecht besessen von dem Wunsch, das Essen kennenzulernen. Tatsächlich kam der Tag, an dem ich eingeladen war, um das berühmte Gericht zu kosten. Eine Mischung aus Kartoffeln, Nudeln und Zwiebeln in einer Soße, ich habe es köstlich in Erinnerung. Ich flehte meine Mutter regelmäßig vergeblich an, es nachzukochen, aber diesen Wunsch hat sie mir nie erfüllt.
Kochen war ein schwieriges Thema in unserer Familie. Meine Mutter hatte zwar in unserer Einbauküche 40 Gewürzdosen zur Auswahl, die in Halterungen auf der Innenseite der Kastentür angebracht waren, und ebenso eine stattliche Sammlung an Rezeptkarten, die per Versandanforderung zugeschickt wurden, und doch hasste sie es zu kochen. Die Gewürzdosen waren alle beschriftet, und ich ordnete sie immer wieder neu, einmal nach dem Alphabet und einmal nach Farbe. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mehr Sorten als Oregano, Thymian, Zimt, Knoblauchpulver oder Paprika benutzte. Die anderen Sorten lagerten in der Halterung und strömten in ihrer Mischung unberührt jahrelang einen exotischen Duft aus, hinter dem sich für mich die hohe Kochkunst verbarg. Oft öffnete ich die Dosen, um daran zu riechen, dabei las ich den Text, in dem Speisen empfohlen waren, die mit dem Gewürz am besten zu verfeinern waren. Ich liebte die Mahlzeiten am Abend, die meist nicht spektakulärer ausfielen, als ein Teller heißes Püree mit einer schmelzenden Butterflocke oder eine Portion Grießkoch, auf den wir möglichst viel Kakaopulver und Zucker streuten. Mein Bruder und ich saßen meistens alleine am Tisch und aßen, bereits gebadet und im Pyjama, meine Mutter werkte im Hintergrund. Ein Teller Püree war für mich Geborgenheit. Wir zogen mit der Gabel Linien auf die Oberfläche des Breis, in die die zerfließende Butter rann. Meine Mutter aß nie am Abend gemeinsam mit uns, mein Vater war meistens nicht zuhause. Mahlzeiten, an denen die vollzählige Familie anwesend war, fanden höchstens an den Wochenenden statt. Besonders feierlich war es für mich, wenn wir vor dem Fernseher aßen.
4.
Frau Huber, unsere Hausmeisterin im Block, fuhr mit ihrem Mann jeden Samstagvormittag zum Großeinkauf, die kleineren der vier Kinder durften meistens mitfahren. Ich beneidete sie, solche Familienunternehmungen fanden bei uns sehr selten statt. Frau Huber trug zu diesem Anlass jedes Mal einen giftgrünen Trenchcoat mit breitem Gürtel und goldener Schnalle und große kugelförmige silberne Ohrclips. Das schwarz gefärbte Haar zu einem Turm hochtoupiert und hochgesteckt und grellroter Lippenstift gehörten zur feinen Ausstattung, wenn sie das Haus verließ. An gewöhnlichen Heimtagen war die bunt geblümte Kleiderschürze die Arbeitsuniform. Ihre Arme quollen aus den engen Ärmellöchern hervor und waren immer leicht vom Körper weggespreizt, sodass ihre schwarzen Achselhaare zu sehen waren. Sie war gefürchtet von den meisten Kindern unseres Hauses, ich war eines der wenigen, zu dem sie freundlich war. Ich war zu ihr höflich und grüßte lautstark, das hatte mir mein Vater beigebracht, es gab in seiner Gegenwart kein Entrinnen, bald hatte ich es mir selbst angewöhnt, ohne Ermahnung.
Mein Bruder stand bei Frau Huber auf der schwarzen Liste. Was genau die Vergehen waren, die zu strengen Ermahnungen führten, weiß ich nicht mehr. Ich wollte ihn verteidigen und schützen, obwohl ich jünger war. Er legte aber auf meinen Beistand keinen Wert.
Mein Bruder war wild, trotzig, mutig und ungehorsam. Seine Aufmüpfigkeit forderte immer wieder lautstarke Drohungen meiner Mutter heraus, die sie doch nie umsetzte. Der Kochlöffel spielte dabei eine Rolle, mein Bruder war zu schnell und zu gewitzt, um jemals die erzieherischen Maßnahmen unserer Mutter zu spüren zu bekommen. Unter diesem ständigen Unfrieden litt ich sehr, meine Mutter war dadurch schlechter Laune und angespannt. Mein Bruder tat mir leid, er selbst nahm jeden Streit auf die leichte Schulter, zog mit seinen Freunden durch die Salzach-Auen, bewaffnet mit seinem Taschenmesser und Zündhölzern, verschlang am Abend seine geliebten Karl-May-Bücher und lies sich so wenig wie möglich zuhause blicken. Gemeinsame Spiele gab es grundsätzlich keine, aus irgendeinem Grund war ich während unserer gesamten Kindheit seine Feindin, auch wenn ich vergeblich um seine Zuneigung oder zumindest um seine Anerkennung oder gar nur seine Aufmerksamkeit buhlte. Meine zögerliche schwesterliche Fürsorge ignorierte er. Es war für mich ein normaler Zustand von unausgesprochenem Zwist, anders konnte ich mir geschwisterliches Zusammenleben nicht vorstellen. Erst Jahrzehnte später sollten wir uns gegenseitig respektieren.
5.
Meine früheste Erinnerung ist ein graues Kleid aus Wolle mit blauen Streifen. Der Anlass, zum ersten Mal in meinem Leben Ohnmacht zu fühlen. Denn das Kleid kratzte entsetzlich, trotzdem wurde ich gezwungen, es zu tragen. Meine Mutter konnte sich nicht vorstellen, dass das Kleid Unbehagen auf der Haut hervorrufen konnte. Ich war vier Jahre alt. Es gibt Fotos von mir mit diesem Kleid. Die erste Dressur, die erste Unterordnung, an die ich mich erinnere. Diesen Zwang erlebte ich einige Male, interessanterweise immer in Verbindung mit Kleidungsstücken. Ich musste Strumpfhosen und Halbschuhe tragen, wenn es für meine Einschätzung schon warm genug war für Socken und Sandalen. Meine Mutter bestand auf den Regenmantel, wenn andere einen Schirm mitnehmen durften. Mütze war für mich Pflicht, wenn die Siedlungskinder längst ohne Kopfbedeckung in der Früh auf den Schulbus warteten. Die Krönung meiner empfundenen Demütigung waren bunte Männchen auf meinen Strumpfhosenknien, die meine Mutter darauf stickte, um Löcher zu kaschieren. Andere Mütter hatten solche Lösungen nicht, stellte ich fest. Meine Mutter fand die Männchen süß, mir waren sie unendlich peinlich. Außenseiterin war ich trotz der seltsamen Männchen auf meinen Knien nicht.
In meinen Volksschuljahren war ich die Anführerin. Ich bestimmte die Rollen beim Mutter-Vater-Kind- und Doktorspiel. Ich war immer Ärztin, nie Patientin. Das Stiegenhaus bot einen wenig intimen Rahmen dafür, aber das war der Ort, an dem wir Kinder uns oft aufhielten. Dann saß ich mit meiner besten Freundin Petra Nirscher auf den Stiegen, sie aß ihr Nachmittagsjausenbrot mit Heringsbutter und wir redeten. Das Brot fiel bei ihr zur Strafe aus, falls sie ihr Mittagessen nicht aufgegessen hatte. Solche mütterlichen Erziehungsmethoden waren mir vollkommen fremd, schon allein, weil ich meinen Teller grundsätzlich von selber leer aß. Petra Nirscher wohnte einen Stock über uns, war älter als ich und sehr vernünftig. Ihre Mutter war selten zuhause. Petra und ihre beiden Brüder wuchsen ohne Vater auf, weil ihre Eltern geschieden waren. Ihre Mutter arbeitete immer wieder in der Spätschicht in einem Gasthaus und schlief dann tagsüber am Sofa in der Wohnküche. Als Kind war mir diese intime Begegnung peinlich, wenn mich Petra zu sich in ihre Wohnung mitnahm. Den Nacken hatte Petras Mutter auf die Holzlehne gestützt, sodass ihre bombastische, kunstvoll vom Friseur gebaute Hochsteckfrisur unbeschadet blieb. Die brauchte sie für ihre Arbeit am Abend. Ihr Haar war leuchtend rot gefärbt, und sie trug Hosen, die um den Hintern hauteng und bei den Waden in Glocken geschnitten waren und durch den engen Bund den fülligen Magen hervorquellen ließen. Es kam mir unbequem vor, Hosen zu tragen, in die man nicht reinpasste.
Ihre Spitzenunterwäsche und ihre weißen Kellnerinnenschürzen trocknete sie auf der öffentlichen Wäscheleine im Freien, die für alle Hochhausbewohner zur Verfügung stand. Ich beneidete sie um ihre langen roten Fingernägel und um ihre unerhört hohen Stöckelschuhe. In ihrem wogenden Gang ging sie regelmäßig am späten Nachmittag zum Autobus, um in das Gasthaus zu fahren, in dem sie arbeitete. Im Stiegenhaus hinterließ sie eine schwere Parfumwolke. Ich ahmte das schöne-Frau-Sein regelmäßig mit meinen Barbiepuppen nach. Ein Hauch von Unnahbarkeit war zu spüren, irgendwie war Frau Nirscher für mich sehr geheimnisvoll. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich je für mich als die Freundin ihrer Tochter interessierte oder mit mir sprach. Ich war einfach nur stille Beobachterin, eine Rolle, die ich als Kind immer bevorzugte. Petras Mutter hatte also eine Arbeit, die hohe Stöckel erforderte. Und viel Schminke. Das fand ich interessant. Wenn ich ganz intensiv nachdenke, erinnere ich mich an lange künstliche Wimpern und blauen Lidschatten und roten Lippenstift. Barbie und Ken durften die Fantasien ausleben, die durch Petras Mutter in mir angeregt wurden. Noch ganz ungreifbar, aber sehr verheißungsvoll für mich, was sich hinter der Präsentation einer Frau verbarg.
6.
Wenn Petra und ich im Stiegenhaus auf den Stiegen saßen und sie ihr Heringsbutterbrot aß, durfte ich immer abbeißen. Die Gewohnheit einer geregelten Jause am Nachmittag kannte ich nicht. Falls ich hungrig war, nahm ich mir selbständig was zu essen aus unserer Küche. Überhaupt war ich in meiner Erinnerung viel allein, obwohl meine Mutter später nur halbtags berufstätig war. Ich kannte nur wenige Kinder, die in den Nachmittagsschulhort gehen mussten. Sie taten mir leid, „Hort“ war für mich gleichgesetzt mit Straflager. Wer im Hort sein musste, war nach meiner Einschätzung ganz unten in der Skala für Kinderrechte. Meine Mutter war zu Mittag immer daheim und kochte für meinen Bruder und mich, wenn wir aus der Schule heimkamen. Zweimal in der Woche war meine Großtante bei uns. Sie war alleinstehend und von der Natur stark benachteiligt. Ihr Rücken war schwer verkrümmt und sie hatte einen Buckel. Ich war 21 Jahre, als sie starb, aber ich habe sie zu Lebzeiten niemals nach ihrem Leiden gefragt. Erst viel später hatte ich den Mut, Details über ihr Schicksal zu erfragen. Das Nichtwissen um ihre Schmerzen und ihre Traurigkeit und ihre Einsamkeit war wohl Selbstschutz, hinter dem ich mich als Kind instinktiv versteckte. Nicht genau hinschauen bedeutete, es ist nicht. Ich wollte starke Erwachsene um mich, stärker als ich selbst, um mich zu beschützen. Meine Tante sorgte für uns, half bei der Hausarbeit, wärmte mir mein Mittagessen auf, setzte sich neben mich und nähte, wenn ich meine Schulaufgaben machte. Wir waren die Familie, die sie nie hatte. Als sie einmal schwer krank war, traf mich als Kind ihr Satz ins Herz: „Schmeißt mich doch endlich ins Grab! Meine ganze Kindheit hab‘ ich ein Gipskorsett tragen müssen, ich will nicht mehr!“ Ich habe mich nicht getraut nachzufragen, irgendwie hatte es, so glaube ich heute, mit ihrer Würde zu tun. Erwachsene hatten nach meinem Empfinden nicht das Recht, nicht mehr leben zu wollen. Erwachsene mussten unbesiegbar sein und mutig. Ich fühlte mich nach ihrer verzweifelten Aufforderung allein und unfähig, meine Tante zu trösten. Dieses Gefühl der Ohnmacht bereue ich heute noch.
7.
Zu den besten vier Jahren in meiner Kindheit zählte die Volksschulzeit. Prinzessin zu sein, habe ich mir nicht erkämpft, ich war es in diesen Jahren von selbst. Die Ära roch nach Flüssigseife und Lehrerinnenschweiß und Leberkäsesemmerln, die wir uns beim benachbarten Fleischhauer für fünf Schilling holten. Ich liebte es, zum ersten Mal ernst genommen zu werden. Ich wurde Sachen gefragt, die ich beantworten konnte, Aufsätze von mir wurden in der Klasse vorgelesen, meine Zeichnungen ausgestellt. Manchmal ging die Lehrerin zum Direktor, um ihm ein besonders herausragendes Kinderwerk zu zeigen. Wissen brachte Anerkennung, wer am schnellsten lesen konnte, war beliebt. Turnen, Schauspielen, Singen, Xylophon Spielen, Schreiben, Basteln. Ein Wunderkind. Das sagte mir zwar niemand, aber ich war fest davon überzeugt, dass es so sein musste. Das goldene Zeitalter des gesunden Selbstbewusstseins endete freilich ziemlich brutal mit meinem Einstieg ins Gymnasium.
Meine einzigen dunklen Stunden in der Volksschule hatte ich im Handarbeitsunterricht. Die Lehrerin saß mit einer Strickjacke über den Schultern, übereinander geschlagenen dünnen Beinen und unverwüstlicher mit Haarspray gefestigter Lockenfrisur im Nachkriegsstil (wir befanden uns bereits in den 1970er-Jahren) hinter dem Lehrerpult und wartete darauf, dass wir Mädchen uns bei ihr anstellten, um verlorene Maschen auffangen oder die Anzahl der Maschen korrigieren zu lassen, wenn plötzlich zu viele oder zu wenig in einer Reihe gezählt wurden. Meistens war die Hilfe begleitet von einem genervt ungläubigen Kopfschütteln, wie denn so ein Fehler nur passieren könne. Ich fürchtete die Frau und ihre unerbittliche Strenge, die sich durch ihre Rolle als Gattin des Schuldirektors verstärkte. Eine Generation vor mir lag wahrscheinlich der Rohrstock noch auf dem Tisch.
Das Häkeln eines Topflappens gehörte zur Königsdisziplin während der Handarbeitsjahre. Wer einen ebenmäßig gehäkelten Topflappen als Werkstück abliefern konnte, besaß das Rüstzeug zum Leben. Fest, regelmäßig und gerippt musste er sein, die Frau Lehrerin hatte vorbildliche Musterstücke mitgebracht. Wer diesen Berg erklomm, zählte zu den Handarbeitsköniginnen. Die perfekten Muster-Topflappen lagen wie unbezwingbare Hürden vor mir: Ein ganz besonders ausgeklügeltes Häkelmuster, bei dem die Maschen in jeder Reihe gezählt werden mussten, zuerst zunehmend, dann abnehmend, sehr kompliziert. Ich verstand den Ablauf und war erleichtert, der Frau Lehrerin keine weiteren Scherereien machen zu müssen. Je seltener man in der Anstellreihe stand, desto besser.
In meiner unbändigen Begeisterung, meinen eigenen Topflappen selbständig zuhause fertig häkeln zu können, achtete ich nicht weiter auf die vorschriftsmäßigen Häkelregeln und häkelte unbeaufsichtigt, aber mit Freude drauf los. Mein Topflappen war fertig, die nächste Handarbeitsstunde sehnte ich erstmals herbei und hielt der Frau Lehrerin stolz mein Werk hin. Was folgte, war ein wortloser Orkan der verzweifelten Entrüstung, ein stummer Sturm des blanken Entsetzens, ja ihre gesamte Kompetenz als Handarbeitslehrkraft kam in der Sekunde ins Wanken, als ich ihr meinen individuell gestalteten Topflappen präsentierte. Mit wie immer blassem Gesicht nahm sie das Objekt in Empfang, schüttelte den Kopf und – schlimmer für mich als jede verbale Beschimpfung – trennte mit langsamen, ruckartigen Bewegungen den gesamten Topflappen wieder auf. Stundenlange enthusiastische Arbeit lösten sich in Sekundenschnelle in gewelltes endloses Garn auf, das sich auf ihrem Schoß am grauen Wollrock türmte. Ich hatte die Abfolge der abnehmenden und zunehmenden Maschen nicht berücksichtigt, Versagen auf allen Ebenen. Ob ich den Topflappen jemals in vorschriftsmäßiger Ausführung fertiggestellt habe, habe ich verdrängt. Auch, wie ich die restliche Zeit der gefürchteten Handarbeitsstunden über die Bühne brachte, weiß ich nicht mehr. Ich habe keinen einzigen Topflappen mehr in meinem Leben gehäkelt.
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