Nelas Grenzlandung. Unsentimentale Kurzgeschichte am Muttertag
Einmal Mutter sein, immer Mutter sein. Da gibt es kein Zurück, erst recht keine Grenze. Grenzenlos müssen Mütter sein. Mütter sind grenzenlos. Sind Mütter grenzenlos? Nela sucht die Grenze zwischen dem Muttersein und sich selbst. Sie braucht diese Grenze vor sich wie ein Tor zur anderen Welt, in die sie immer wieder übertreten kann und sich in Sicherheit weiß. Entlassen auf Zeit aus der Verantwortung, entlassen aus dem verbindlichen, unauflösbaren Liebespakt. Grenzflucht, über die Grenze fliehen mit dem Passierschein, der die Rückkehr ermöglicht.
Ihre Flucht, ein Geheimnis. Wünsche des Alleinseins, des Seins in Nelas Raum – jenseits der Grenze zur Sorgsamen, Verantwortungsbewussten, Liebevollen. Ein Aufschrei geht durch die Reihen der Sorgsamen, Verantwortungsbewussten, Liebevollen. Sie erkennen weit und breit kein notwendiges Grenzland, niemals wollten sie über die Grenze. Sie bleiben hinter dem für sie sowieso unsichtbaren Grenzbalken. Dort, wo ihr Platz für immer ist, ab der Geburt des Kindes. Welcher Platz ist richtig? Welcher falsch? Wer darf darüber richten?
Muttersein. Von der Natur in uns eingebrannt, zum unweigerlichen, unwidersprochenen Gesetz in unserem Körper verschweißt, gegossen in Fleisch und Blut, festgemauert in unseren Instinkten, eingewoben in Geist und Leib, manifestiert von der Evolution, verflochten in jedem Nerv, eingesponnen in unser Gehirn. Wir werden zu Mörderinnen an jenen, die unserem Kind schaden würden, zu Furien, wir stellen das Wohl der Brut weit über das eigene Leben. Chromosom gewordene Liebe, Darwin‘sches Naturgesetz der Liebe auf Knopfdruck, in der wir unser ganzes Leben lang verharren. Der Trieb der Liebe. Manchmal so leicht und willkommen und fein und selbstverständlich wie eine weiße duftende Feder. Manchmal so unerträglich schwer auf Nelas Schultern, schwer wie Blei. Aber alles, was gegen den Trieb strömt, ist uns verdächtig. Mütter, die sich nach Grenzen sehen, verdächtig. Mütter, die Grenzen übertreten, verdächtig.
Manchmal wird Nela erhascht vom Trieb. Der überschwemmt alles, was in ihr lebendig ist. Dann kriecht sie manchmal wie Moder in die Seele, die Angst um das Kind, die Angst, die lähmt wie Gift. Angst vor Verlust, Angst vor Veränderung, Angst vor Entfremdung. Niemand kann die Angst vertreiben, wenn sie in Nela sitzt wie eine fette Spinne, bewegungslos. Das sind die Momente, in denen sie aufblitzt, die Grenze zum Hinüber. Sie zeigt sich wie ein verheißungsvoller Horizont, der Nela lockt. Dorthin, wo es eine Rast gibt von der erschöpfenden Reise. Stacheldrahtgeschützt zwar, von Alligatoren bewacht, rund um die Uhr. Kein Entrinnen möglich, Grenzgang verboten. Grenzpatrouillen kontrollieren die Flüchtige, die jeden Moment überlaufen könnte. Nela kämpft gegen den Widerstand an.
Dann wird der Überlauf von langer Hand vorbereitet. Nela organisiert, plant, verhandelt. In den meisten Fällen will er gelingen, der Grenzgang auf Zeit, hinüber in ihr grenzenloses Sein. Nicht verantwortungslos, aber ohne Verantwortung, nicht lieblos, aber ohne zu lieben, nicht rücksichtslos, aber ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Diese Momente sind ihre Momente. Wie Balsam legt sich dann die Ruhe auf ihr Innerstes. Die Ängste sind kurze Zeit auf Belanglosigkeit reduziert. Gehetzte Rastlosigkeit weicht dann dem friedvollen Innehalten. Kurze Aufenthalte jenseits der Grenze lassen Nela die Stille spüren, die sie auf der anderen Seite so selten zu finden vermag. Dort explosive Anstrengung, Alarmbereitschaft, hier unaufgeregter Frieden. Dort pulsierender, lauter Rhythmus, hier Leichtigkeit. So gerne will sie beides vereinen. Menschen schütteln die Köpfe über ihre regelmäßigen Ausflüge. Aber ihre Liebe ist niemals gefährdet, niemals in Frage gestellt, sobald sie drüben ist. Sie nimmt sie mit in sich, kann sie dort spüren, wiegt sie behutsam. Nicht verantwortungslos, aber ohne Verantwortung. Das muss Nela oft erklären.
Die Existenz einer Grenze hat sie schon früh wahrgenommen. Das Bild, das sich als wachsende Sehnsucht in ihr festsetzt, ist ein großer türkisfarbener See. Nela sitzt dort am Ufer und tut nichts, als kleine Kieselsteine ins Wasser zu werfen, das feine Ringe auf die Oberfläche zeichnet. Damals weiß sie noch nicht, dass sie erstmals ins Grenzland schaut, weit davon entfernt, sich wirklich auf den Weg „hinüber“ zu machen. Mit der Zeit sammelt sie diese Bilder wie kostbare Erlebnisse. Es dauert lange, bis sie sich eingesteht, die Grenze auch tatsächlich überschreiten zu dürfen. Es ist die Angst, die Grenzgänger von ihrem Vorhaben abhält. Grenzgänger sind meistens gefürchtet, sie bringen Dinge durcheinander, die bisher wohl geordnet und übersichtlich an ihrem Platz gestanden haben. Grenzgänger verrücken diese Dinge, tauschen sie aus, werfen sie weg, verzichten darauf, erzeugen Unsicherheit, sind unberechenbar. Und doch hält Nela weiterhin daran fest, ihr angestammtes Areal immer wieder zu verlassen und sich hinüber zu stehlen. Sie ist oft gefordert, sich zu rechtfertigen, aber ihr Umfeld bringt zunehmend Verständnis auf für ihre seltsamen Grenzgänge. Sie wissen, sie kehrt zurück.
Als Kind schon gibt es für Nela diese Grenze zu dem Land, in dem sie sich geschützt und behütet und frei fühlt. Das legitime Wegtauchen ins kindliche Spiel, in dem sie sich ganz verlieren kann, vertuscht ihre Flucht aus dem Hier ins Dort. Kindern wird ein wohliges verloren Sein eingestanden, ein Loslassen, ein Wegdriften. Erwachsene sind zum Hierbleiben verdammt. Kein sich Verlieren, kein Loslassen, kein Wegdriften. Sie müssen sich zurechtfinden in dem Jetzt, das sie sich zurechtgelegt haben. Flucht unerwünscht. Einmal Mutter, immer Mutter. Verantwortung nennen wir es.
Und doch ist sie süß und verlockend, die Flucht über die Grenze für eine Stunde, einen Tag, eine Woche. Eintauchen, wegtauchen, durchtauchen, abtauchen. Ganz tief hinunter in die Apnoe-Zone. Dort, wo kein grelles Licht hinfällt. Kellerassel-Syndrom vielleicht? Scheues, ungezähmtes Tier vielleicht?
Nelas Erinnerungen an ihre Kindheit hüten die stillen Momente: Sie liegt am Bauch auf dem Teppich ihrer Großmutter und flicht die Kordeln zu kleinen Zöpfen. Sie sitzt in ihrem Zimmer und füllt Seite für Seite mit endlosen Notizen der fiktiven Sekretärin. Sie schaukelt in der Hängematte und blickt hinauf zu den raschelnden Birkenblättern. Sie klopft mit Steinen auf ein Blatt und markiert den Untergrund mit grünen Flecken. Sie dekoriert ihr Puppenhaus mit Gegenständen, die sie in Filmen gesehen hat. Sie hört stundenlang Geschichten und Märchen ihrer Langspielplatten. Ihre früheste Erinnerung ist ein graues Kleid mit blauen Streifen aus Wolle. Das Kleid bietet Anlass, zum ersten Mal in ihrem Leben wütende Ohnmacht zu fühlen, das Kleid kratzt auf der Haut, Nela muss es tragen, niemand kann das Unbehagen nachvollziehen, das das hübsche Kleid verursacht, die erste Dressur, die erste Unterordnung. Der erste Plan des Entkommens wird folgen.
Es gibt viele solcher Bilder in Nelas Kopf, alle schon damals in ihrem Grenzland. Dort, wo sie noch oft eindringen würde, heimlich leise oder aber auch offiziell mit Stempel und Reisebefugnis. Es soll ihr Lieblingsland werden. Auch damals ertönt, wie heute, der Pfiff, mit dem sie sie zurückholen. Pflichten holen sie zurück auf die Seite im Jetzt. Heute ist die Liste der Erwartungen endlos lang. Derartig lang, dass nur wenig Zeit und Raum übrigbleiben, um die Grenzflucht umzusetzen. Im Kind Sein ist Nelas Aufenthalt im Grenzland ganz selbstverständlich. Der Wechsel zwischen den Seiten vor und hinter der Grenze verläuft unauffällig. Sie liebt die Zeit, die ihr gehört. Heute ist Nela in spärlichem Besitz von Zeit. Das Übermaß an Zeit heißt damals Langeweile. Heute gibt es keine lange Weile in Nelas Leben.
Den meisten Menschen ist die Grenze verborgen. Sie suchen sie nicht, sie wissen nicht einmal um ihre Existenz. Sie leben in ihrem Raum, ausreichend groß, um sich zu bewegen, zu denken, zu arbeiten, zu leiden, zu lieben, zu genießen. Nela beneidet sie. Sie kennen nicht die Sehnsucht, die regelmäßig quält, das unausweichliche Fernweh, das sie überkommt. Nela sieht die Grenze vollkommen klar, auch wenn sie an vielen Tagen im trüben Nebel liegt. Die Grenze zu ihrem gelobten Land.
Nela hat sich dieses Sein da drüben zurechtgelegt, die Sehnsucht zur Flucht, aus der sie immer wieder zurückkehrt. Die Lust am Entkommen, um wiederzukommen. Erst das Abtauchen hinüber ermöglicht die lustvolle Rückkehr. Sie geht, um zurückzukehren. Die Schatten drüben sind manchmal grauenvoll und angsteinflößend, düster und trostlos. Und doch zieht es sie hinüber in die einsame Stille. Ein Abgrund, auf dem sie immer wieder aufzutauchen vermag. Das ist ihr Glück. Sie verschwindet in sich. Dann kann es auch umgekehrt sein: Sie flieht aus ihrem dunklen Grenzland ins helle reale Leben zurück. Spricht, hört, sieht, fühlt, schmeckt. Auch das ist ihr Glück. Die Rückkehr, die zu einem Wiedersehen wird mit den Menschen, die sie liebt. Jetzt bleibe ich für immer, sagt sie. Jetzt ist es gut, sagt sie. Jetzt finde ich Frieden, sagt sie. Aber der Frieden bleibt nie lange. Er lässt sich verscheuchen, der Feigling. Der Frieden ist der Feind der Angst. Die Angst vergiftet den Frieden, betäubt ihn, macht ihn schwach und wackelig. Solange, bis er sich vom Sockel stoßen lässt. Dann hat die Angst wieder gewonnen und wächst und lacht sich ins Fäustchen. Sie wegzudrängen ist sinnlos. Wie zäher Schleim dringt sie durch alle Ritzen, macht sich breit und überzieht die Gedanken mit einem giftigen Film. Wer das Rezept gegen die Angst entdeckt, gewinnt. Es gibt sie da wie dort, die Angst. Im Leben hier und hinter der Grenze sowieso. Vielleicht ist es auch nur die Flucht vor der Angst, die die Grenze entstehen lässt? Ein Weglaufen erscheint womöglich als gelungener Plan, sie loszuwerden, ihr zu entkommen. Aussichtslos der Kampf, wir nehmen uns immer selbst mit. Können uns nicht abschütteln wie lästige Fliegen. Können nicht entkommen. Dumme Grenzgängerin Nela. Die Dunkelheit bleibt in uns, auch wenn wir ins Licht wechseln. Das weiß Nela. Wenn die Angst zupackt, gibt es kein Entrinnen. Wir versuchen, sie verschwinden zu lassen, kehren sie unter den Teppich. Ein lächerlicher Versuch zu gewinnen. Nela weiß das. Im Taumel der Angst ist Bewegung, die sie von einer Seite auf die andere flüchten lässt. Ein Pendel, das hin und her schwenkt im Takt.
Die Zerrissenheit ist es, die Nela zerreißt. Zerrissen durch die Grenze, die zwei Teile schafft. Grenzen teilen uns, Grenzen einen nicht. Solange Nela diese Teilung in sich nicht einen kann, ist sie zerrissen. Das Grenzland, das sie regelmäßig überschreitet, gehört zu ihr. Die Zuversicht hält uns am Leben, macht uns zu Menschen ohne Angst. Hoffnung nennen sie es auch. Es ist die Zuversicht, die Nela hoffen lässt, irgendwann ihre Grenzgänge aufgeben zu können.
Grenzen niederreißen, ohne gegenseitige Gefährdung, das ist der Plan.
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